Hartmut Krauss
Kulturelle 'Moderne, kritischer Marxismus und
eine radikal-humanistische Antwort auf den religiösen
Fundamentalismus
Kulturelle 'Moderne und kapitalistische
Gesellschaft
Das
ideologisch dominante Kernstück der 'prämodernen
(vorindustriell-agrarisch fundierten) Herrschaftsorganisation - als
nach wie vor aktuelle Erscheinungsform antagonistischer Zivilisation
- war und ist das theozentrische Weltbild. Sein
Grundcharakteristikum ist die Leugnung der autonomen Subjektqualität
der Menschen als vernunftbegabte Selbstgestalter ihres eigenen
Lebensprozesses und statt dessen die Setzung Gottes als allmächtiger
Schöpfer, Gestalter und Richter des Weltgeschehens. Die
gattungsspezifischen Wesenskräfte der Menschen werden damit auf
eigentümliche Weise in "verhimmelter Form vom
irdischen Grund abgetrennt, auf das transzendentale Medium "Gott
projiziert und damit "unrealistisch zu einem
'Metaphysikum überhöht: Mit dem Glauben an diese
abgetrennte, personifizierte und sakralisierte Wesenskraft will man
"Berge versetzen. Der Mangel an Realitätskontrolle
("das irdische Jammertal) wird mit dem "Setzen
auf eine übernatürliche Instanz kompensiert ("Erlösung
im Jenseits).
Diese
theozentrische Weltanschauung beinhaltet in den unterschiedlichen
konkreten Glaubenssystemen eine religiös-ontologische
Rechtfertigungslehre bezüglich der bestehenden irdischen
Herrschaftsbeziehungen (zwischen Herrschern und Untertanen; Gläubigen
und Ungläubigen; Männern und Frauen, Stämmen, Sippen
und Ethnien etc.). Insofern fungierten und fungieren die religiösen
Glaubenssysteme immer auch als "ausgesprochene
Herrschaftsideologien. So gilt die soziale
(geburtsrechtlich-ständische) Ungleichheitsstruktur der feudalen
Gesellschaft mit ihren spezifischen Ausbeutungs-, Herrschafts- und
Abhängigkeitsverhältnissen in der dominanten
christlich-religiösen Sichtweise als durch göttlichen
Willen vorherbestimmte und damit unveränderbare bzw.
hinzunehmende Ordnung. In der dominanten Lesart des Islam werden
unter Verweis auf den Koran, Sure 4/Vers 59 ("O ihr, die ihr
glaubt, gehorchet Allah und gehorchet dem Gesandten und denen, die
Befehl unter euch haben) die irdischen Herrschaftsbeziehungen
sakralisiert, d.h. als heiliges Gebot Allahs sanktioniert. Insofern
der Imam Nachfolger des Propheten (Kalif) ist, agiert er gleichzeitig
als unantastbarer religiöser und politischer Führer im
Interesse der Erhaltung/Einhaltung der göttlichen
Gesetzesordnung. In kulturell unterschiedlicher Ausprägung
firmiert damit die theozentrisch-religiöse Weltanschauung als
'ideologischer Kitt z.B. der christlich-abendländischen
Feudalordnung sowie der orientalischen Despotie.
Infolge
der Herausbildung eines mehrstufigen soziokulturellen
Umwälzungsprozesses in Gestalt von Renaissance, Reformation und
Aufklärung und getragen von antifeudalen Oppositionskräften
unter Führung städtebürgerlicher Schichten, fand in
West- und Mitteleuropa der revolutionäre Übergang von der
mittelalterlich-feudalen 'Prämoderne zur neuzeitlichen
'Moderne statt, der schließlich zur Etablierung der
bürgerlich kapitalistischen Gesellschaftsformation geführt
hat. Im Rahmen dieses Prozesses wurde die ideologisch-kulturelle
Prägekraft des theozentrischen Weltbildes und die
gesellschaftliche Normierungsmacht der christlichen Religion
systematisch untergraben und geschwächt, ohne freilich gänzlich
überwunden werden zu können. Immerhin geriet aber die
christliche Religion unter einen starken Legitimations- und
Anpassungsdruck, der im Endeffekt dazu führte, dass diese ihre
Eigenschaft als absolute, d.h. allein gültige und letztlich
entscheidende geistige Normierungsinstanz einbüßt hat. Als
wesentliche Faktoren dieses Umbruchprozesses und zugleich als
zentrale Konstitutionsmomente der 'kulturellen Moderne sind
folgende Aspekte anzuführen:
1)
Attackiert wird das dem christlichen Theozentrismus eingeschriebene
Dogma vom "erbsündigen, zur eigenen Befreiung
unfähigen, auf Gedeih und Verderb der göttlichen Erlösung
ausgelieferten Menschen. Demgegenüber wird die Schöpferkraft,
Selbstverantwortung und Würde des Menschen (als Gattung und
Individuum), also seine vernunftvermittelte Subjektivität,
hervorgekehrt. Im Kern wird damit die Wiederaneignung der auf Gott
projizierten menschlichen Wesenskräfte postuliert; folgerichtig
rückt der homo faber in den Mittelpunkt des Weltgeschehens.
2)
Im Zuge der geistigen Auseinandersetzungen zwischen feudaler
Reaktion und antifeudaler Befreiungsbewegung>
kommt es sukzessive zur Entkoppelung von Glauben und Wissen
nicht nur als Basis für die Entstehung der modernen
Wissenschaften, sondern zugleich als Voraussetzung für
Säkularisierung (Verweltlichung von gesellschafts- und
selbstbezogenen Denk- und Handlungsformen) und institutioneller
Trennung von Religion und Politik.
3)
Wesentlicher Bestandteil der antifeudalen Befreiungsbewegung ist die
Idee und spätere revolutionäre Proklamation der
Menschenrechte sowie das Konzept der bürgerlichen
Freiheiten als natürliche Individualrechte. Hervorzuheben
ist hier auch das Prinzip der Rechtsbindung der Regierungund
der staatlichen Apparate eingedenk der gemachten Erfahrungen mit
feudaler Despotie und Willkürherrschaft. Die realhistorische
Aufbietung von kämpferischer, "praktisch-kritischer
Energie für die Durchsetzung dieser
'demokratischen/emanzipatori-schen Ideen wäre letztlich
undenkbar gewesen ohne die vorgängige geistige 'Aufsprengung
des theozentrischen Weltbildes bzw. der "Entgöttlichung
des Mensch-Welt-Bezuges.
4)
Ein zentraler Umwälzungsaspekt des Aufklärungsdenkens
ist die Idee des 'freien Individuums. Nach dieser Auffassung
verfügen die individuell-konkreten Menschen als
'Gattungsindividuen unabhängig von ihren jeweiligen
sozialen und kulturellen "Einbettungen über das
'artspezifische Vermögen, sich ihres "Verstandes ohne
Leitung eines anderen zu bedienen (Kant). Im Lichte dieser
'allgemeinmenschlichen Fähigkeit zur Mündigkeit
(d.h. Tradiertes kritisch zu reflektieren)
werden die überlieferten Gemeinschaftsformen (Sippe, Stamm,
Kaste, Stand, Religionszugehörigkeit etc.) nicht mehr als
zwangsdeterministische Gebilde aufgefaßt, die den Menschen eine
unwandelbare und nichttranszendierbare Identität auferlegen. Dem
individuellen Subjekt wird vielmehr die Kompetenz und das Recht
zuerkannt, sich vom Tradierten (Althergebrachten, Gewohntem) zu
distanzieren, die unmittelbar-zufälligen sozialen Bindungen,
Standesgrenzen und Glaubenszugehörigkeiten zu überschreiten
und seine Identität - im Rahmen des konkret-historisch
limitierten Raumes alternativer Wahlmöglichkeiten - 'frei
zu gestalten.
5)
Die Idee des 'freien Individuums setzt wiederum die
Vorstellung einer 'einzigen Menschheit voraus. Zwar
unterscheiden sich demnach die konkret-empirischen Individuen in
ihrer personalen Einzigartigkeit, ihren soziokulturellen Bezügen,
reproduktiven Besonderheiten, spezifischen Lebensführungspraxen
etc., aber sie sind zugleich 'vereint in gemeinsamen
Dispositionen, Bedürfnissen, Fähigkeitsstrukturen und
Interessen. Folglich gibt es nicht nur Besonderes, Einzelnes und
Differentes im zwischenmenschlichen und interkulturellen Verkehr,
sondern gleichzeitig immer auch Allgemeines, 'Übergreifendes
und Gemeinsames als Basis reziproker Kooperation, Verständigung
und Perspektivenverschränkung. Nur weil ein bedeutungshaftes
'gemeinsames Drittes in Gestalt von intersubjektiv geteilten
Erkenntnissen, Werturteilen, Normen, Erfahrungen etc. existiert, kann
zivilisiertes menschlich-interkulturelles Zusammenleben als tätige
Begegnung von Gleichberechtigten gedeihen.
Kennzeichnend
für die "heroische Aufstiegsideologie des
antifeudal-revolutionären Bürgertums, das die alte Welt mit
noch unverbrauchtem Geschichts- und Erkenntnisoptimismus aus den
Angeln zu heben gedachte, ist ein wissenschaftszentrierter
Fortschrittsglauben. Aufbauend auf der von René Descartes
(1596 - 1650) vollendeten Befreiung der Naturwissenschaft von den
Fesseln der Theologie proklamieren die Philosophen der Aufklärung
die Beherrschbarkeit der Welt durch den menschlichen Geist auf allen
Gebieten. Das Paradigma dieses neuen Rationalitätsmodells bilden
die mathematischen Naturwissenschaften mit ihren der Newtonschen
Physik entnommenen drei methodischen 'Schlüsselwerkzeugen
der Wahrheitsfindung/Weltenträtselung: Beobachtung, Experiment
und Berechnung. Entsprechend diesem methodisch gesicherten
Erkenntniswachstum der modernen Wissenschaft wird ein evolutionärer
Fortschrittsprozess des menschlichen Geistes und - daraus folgend -
der Gesellschaft unterstellt.
Condorcet (1743 - 1794) beispielsweise geht davon aus, "daß
die Natur der Vervollkommnung der menschlichen Fähigkeiten keine
Grenzen gesetzt hat; daß die Fähigkeit des Menschen zur
Vervollkommnung tatsächlich unabsehbar ist (Condorcet
1963, S. 29). Abgesichert erscheint dieser
Selbstvervollkommnungsprozess durch die menschliche Lernfähigkeit,
d.h. vermittels der Überwindung von Erkenntniswiderständen
die Wahrheit zu entdecken. Eine wesentliche Gestalt dieser zu
überwindenden Erkenntniswiderstände sind nun in der
Perspektive der Aufklärer die aus der institutionalisierten
Religion hervorgehenden Vorurteile und der sich daraus ergebende
Aberglaube. Gegenüber diesen traditionalistisch-rückständigen
Bewusstseinsinhalten und -strukturen ergibt sich für die
Wissenschaften die Funktion der Aufklärung. "Aufklärung
wird zum politischen Begriff für die Emanzipation von
Vorurteilen durch die praktisch folgenreiche Diffusion von
wissenschaftlichen Erkenntnissen, in Condorcets Worten: für die
Auswirkung der Philosophie auf die öffentliche Meinung
(Habermas 1987, S. 212).
Mit
der Etablierung des Bürgertums als herrschendes Subjekt
entfaltet sich fortan der Widerspruch zwischen den
bürgerlich-revolutionären 'Gründeridealen und
der kapitalistisch werdenden Wirklichkeit mit ihren spezifischen
Antagonismen, sozialen Verwerfungen, antinomischen Strukturen und
Krisen. In dem Maße nämlich, wie im Konstituierungsprozess
der kapitalistischen Produktionsweise sich die Subsumtion des
bürgerlichen Sinnhorizonts unter die Logik des Profits immer
deutlicher offenbart, zerreißt auch der allgemeinmenschliche
Schein der 'präkapitalistischen bürgerlichen
Emanzipationsideologie. 'Vernunft wird nun aus den heroischen
Höhen der Revolutionsphase auf den funktionalen Boden der
kapitalistischen Systemreproduktion geholt, also der via Konkurrenz
"eingepaukten Logik verwertungsrationalen Handelns
untergeordnet. Sie schrumpft mithin zur 'instrumentellen Vernunft.
Diese interessenfunktionale Kastration der Vernunft manifestiert sich
nachdrücklich in der Spaltung des bürgerlichen
Erkenntnissubjekts: Bezüglich der Natur als 'Springquelle des
Reichtums ist der Bourgeois an einer objektiven
Gesetzeserkenntnis interessiert, wie sie als instrumentelle
Voraussetzung zur profitablen Optimierung des
Kapitalverwertungsprozesses dient. Bezüglich der Gesellschaft
ist die auf permanente Selbstreproduktion als herrschendes Subjekt
bedachte 'postrevolutionäre Bourgeoisie nicht mehr an
Wahrheit, Zusammenhangserkenntnis, wirklichen (prozessualen und
strukturellen) Einsichten interessiert, sondern lediglich an
herrschaftsrelevanten Teilinformationen zwecks systemstabilisierender
Sozialkontrolle. Angesichts der erstarkenden Arbeiterbewegung und der
von ihr ausgehen-den Herrschaftsbedrohungen auf ökonomischem,
politischem und ideologischem Gebiet (Streiks, politische
Aufstände/Pariser Kommune, wissenschaftlicher Sozialismus) setzt
vor diesem Hintergrund ein radikaler Wandel im geistig-moralischen
Antlitz der Herrschenden ein: allgemeiner Erkenntnis- und
Fortschrittsoptimismus schlägt um in Erkenntnispessimismus bzw.
selektiven (gesellschafts- und geschichtsbezogenen) Agnostizismus und
Fortschrittsskeptizismus. Dieser weltanschauliche Dominanzwechsel vom
aufklärerischen Rationalismus zum
lebensphilosophisch-pessimistischen Irrationalismus schließt
ein die Rückwendung des bürgerlichen Denkens zur Religion
bzw. die 'Wiederentdeckung der Religion als
herrschaftsideologisch relevante Legitimationsressouceangesichts von Krise und Herrschaftsbedrohung. Dabei impliziert
diese Wendung zur Religion als Grundtendenz des
herrschaftsetablierten bürgerlichen Denkens die weitgehende
Zurücknahme des bürgerlich-revolutionären
Materialismus, Atheismus und Rationalismus, die Neuakzentuierung
irrationalistischer Erkenntnismethoden, die Wiederbelebung
mythologischer Weltbilder, die Ablehnung des
gesellschaftlich-geschichtlichen Fortschritts, die verklärende
Emotionalisierung des Mensch-Weltverhältnisses sowie die
Erneuerung theologisch-dogmatisch gebundener Philosophie. Diese
herrschaftsstrategisch bewusste Reorientierung des Bürgertums
auf die Religion als Legitimationsressource korrespondiert mit dem
Wiedererstarken der kirchlichen Organisationen, insbesondere auch der
katholischen Kirche, als weltliche Machtinstanz, d.h. als
traditioneller Großgrundbesitzer, moderner Finanzmagnat und
konservative Propagandainstitution.
Rückblickend
betrachtet, läßt sich die Entwicklung der
bürgerlich-kapitalistisch bestimmten 'Moderne demnach
folgendermaßen periodisieren:
1)
Die Epoche des emanzipatorisch-"heroischen Aufstiegs
des Bürgertums vom Beginn der Renaissance bis zur
französischen Revolution. In diesem "Zeitalter der
(anwachsenden) Aufklärung formieren sich die
städtebürgerlichen Schichten unter Einschluss bäuerlicher
und plebejischer Teile der Volksmassen als Akteur antifeudaler
Befreiungskämpfe und bringen in Gestalt eines reichhaltigen
Fundus emanzipatorischer Ideen, Programme, Theorien,
Leitvorstellungen etc. das Projekt der sog. kulturellen Moderne
hervor (Religionskritik, Humanismus, Rationalismus, Philosophie der
Aufklärung, Idee der Menschenrechte, Trennung von Staat und
Religion, Konzept des "freien Individuums, Idee der
Volkssouveränität etc.).
2)
Die Epoche der Umwandlung des vormals revolutionär-antifeudal
auftretenden Bürgertums zur herrschenden Bourgeoisie. In
dieser Ära der industriellen Revolution und der 'freien
Konkurrenz entfaltet sich der Widerspruch zwischen den
allgemeinmenschlich-emanzipatorischen Gründeridealen und der
kapitalistisch werdenden Wirklichkeit. In dem Maße nämlich,
wie im Prozess der Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise
sich die Subsumtion des bürgerlichen Sinnhorizonts unter die
Logik des Profits immer deutlicher offenbart, zerreißt der
humanistische Schein der "präkapitalistischen
bürgerlichen Emanzipationsideologie. Im Rahmen seiner
Metamorphose zur "herrschenden Bourgeoisie enthumanisiert
und entdemokratisiert sich folglich das Bürgertum. Es streift
geistig-moralischen Ballast ab, der seine neu gewonnene
Handlungsfähigkeit als ökonomisch, politisch und
ideologisch herrschendes Subjekt - in Konfrontation mit der sich
herausbildenden Arbeiterbewegung - nur behindern könnte.
3)
Die Epoche der "expandierenden, zu Raub- und
Eroberungskriegen tendierenden imperialistischen Bourgeoisie in der
Phase der extensiv erweiterten Reproduktion des Kapitals. In
dieser 'imperialistisch-fordistischen Ära der
militaristischen Rivalität und kolonialistischen
Eroberungskonkurrenz findet eine ebenso radikale wie systematische
Umwertung des ursprünglichen bürgerlich-revolutionären
Werte- und Menschenrechtshorizonts statt. Wiedereinsetzung des
Religiösen als konservative Machtressource, Irrationalismus,
Rassismus, Sozialdarwinismus und Chauvinismus avancieren als
ideologische Fermente der "Zerstörung der Vernunft
und der Austreibung des humanistischen Denkens zur neuen
antiaufklärerischen Leitkultur. Den Brenn- und Zielpunkt bildet
die emphatische Verteidigung sozialer Ungleichheit bzw.
antagonistischer Herrschaftsverhältnisse bis hin zur
faschistischen Konstruktion des neuen "Herrenmenschen.
4)
Die gegenwärtige Epoche der "postnationalen,
"kosmopolitisch gewordenen Bourgeoisie der "global
players in der Phase der mikroelektronisch gestützten,
intensiv erweiterten Reproduktion des Kapitals. In dieser
Entwicklungsetappe der 'postfordistischen Deregulierung und
strukturellen Überproduktion von Waren und warenförmigen
Dienstleistungen erlangt die 'besitzindividualistisch-konsumistische
Massenkultur des Habens als Lösungsinstanz des
kapitaltypischen Realisationsproblems eine herausragende
gesellschaftliche Bedeutung. Sie fungiert als marktförmiger
'Bewährungsort der verdinglichten Wahlfreiheit der
Konsumbürger zugleich als gesellschaftlicher Schnittpunkt, "an
dem die systemische Reproduktion, die gesellschaftliche Integration
und die individuelle Lebenswelt koordiniert und harmonisiert werden
(Baumann 1995, S.82). Weder werteideologische Mobilisierung (wie in
der Aufstiegsphase) noch normative Indoktrination (wie in der Phase
der Herrschaftsetablierung und -expansion) sind nunmehr primär
erforderliche Machttechniken der Bourgeoisie, sondern fortan rücken
warenästhetische und werbemethodische Maßnahmen zur
"Verführung und verkaufsstrategischen
Standardisierung der vielfältig differenzierten KonsumentInnen
ins Zentrum der Akkumulation. Auf diese Weise wird der
Spätkapitalismus zunehmend wertenihilistisch, anarchisch,
pluralistisch und kontingent: Anything goes - wenns der
Kapitalverwertung (und politischen Loyalitätssicherung) nützt.
Im
postmodernen Denken wird dieser etappenweise soziokulturelle Übergang
vom 'modernen bürgerlichen Emanzipationsidealismus über
die Etablierung der bourgeoisen Herrschafts- und imperialistische
Expansionsideologie hin zum spätbürgerlichen Utilitarismus
und verwertungsstrategischen Nihilismus undistanziert affirmiert. An
die Stelle kritischer Durchdringung gesellschaftlich-historischer
Widerspruchs- und Krisendynamik in der Absicht praktisch
eingreifender Verbesserung tritt die "fröhliche
Bestätigung der vorgefunden Wirklichkeit als unentrinnbares,
aber nichtsdestotrotz "freudig anzunehmendes Schicksal.
Der spätkapitalistisch durchformten Lebens- und Existenzweise
mit der 'konsumistischen Massenkultur des Habens und der
massenmedialen Vergnügungsindustrie als gigantischen
Erzeugungsmaschinen von 'Pseudo-Sinn kann und darf nichts mehr
entgegengesetzt werden. Widerstand aus der Perspektive
emanzipatorischer Bildungs-, Lebens- und Entfaltungsinteressen wird
im postmodernen Denken deshalb systematisch verstellt oder sogar
explizit verdammt; der Verzicht auf Wahrheit, allgemeingültige
Wertmaßstäbe und Ideale zum verbindlichen Credo erhoben.
"Im Zeitalter des Spektakulären verwischen sich die harten
Gegensätze von Wahr und Falsch, Schön und Häßlich,
von Wirklichkeit und Illusion, Sinn und Unsinn, die Gegensätze
werden zu etwas 'Flottierendem, und so beginnt man allmählich
zu begreifen ... , dass es fortan möglich ist ohne Sinn und Ziel
zu leben (Lipovetzky, zit. n. Seppmann 2000, S.114).
Das
den systemischen und soziokulturellen Zwängen der
kapitalistischen 'Spätmoderne unterworfene 'Subjekt
sieht sich somit einer multidimensionalen Zerreißprobe voller
Ambivalenzen ausgesetzt, die hier nur unvollständig umrissen
werden kann:
a)
Einerseits hat es die auf "Kurzfristigkeit und
"Beschleunigung ausgerichteten Anforderungen des
postfordistisch umformierten Arbeitsprozesses zu erfüllen;
andererseits soll es der auf "Langfristigkeit und
"Stabilität setzenden Logik des Aufbaus und der
Aufrechterhaltung privater Beziehungen (Ehe, Familie, Partnerschaft,
Freundeskreis etc.) Folge leisten (zeitlogischer Widerspruch).
b)
Während den postfordistisch "zergesellschafteteten
Individuen eine neue "Risikotoleranz abverlangt wird,
nämlich die Bereitschaft, am Rande des sozialen Abgrunds zu
leben und einen weitgehenden Verzicht auf die Generierung von
halbwegs abgesicherten Zukunftsperspektiven auszuhalten, wird
gleichzeitig die Erfahrung des Scheiterns in einer
Konkurrenzgesellschaft, die massenhaft Verlierer erzeugt, tabuisiert
und desartikuliert.
c)
Einerseits hat vermittels der Ausdehnung und Effektivierung der
massenmedialen und informationstechnologischen Durchdringung der
Lebenswelt (Multiplikation privater Rundfunk- und Fernsehsender,
Internet, Teleshopping und -banking etc.) sowie der Schaffung neuer
Einkaufszentren ("Konsumtempel) die Faszinationskraft des
Distinktions- und Kompensationskonsumismus auf alle Klassen und
Schichten gegenüber dem fordistischen Initiationsstadium noch
zugenommen. Andererseits ist aber infolge der für den
Postfordismus kennzeichnenden sozialen Verwerfungen (chronische
Massenarbeitslosigkeit, neue Armut, zunehmender Wettbewerb um "knappe
Güter) eine verschärfte Ungleichverteilung der
konsumtiven Zugangs- und Partizipationsmöglichkeiten sowie der
daraus resultierenden Konsummuster zu konstatieren (Verschärfter
Widerspruch zwischen "Anreizung und "Ausschließung).
d)
Auf der einen Seite steigt die Riskanz kapitalistisch bestimmter
Lebenstätigkeit und führt so zu einer tendenziellen
Überstrapazierung der psychischen Verarbeitungskapazität
der "flexibilisierten Menschen. Gleichzeitig aber ist
aufgrund der Auszehrung von Lebenssinn und Orientierung vermittelnden
gesellschaftlichen Bedeutungssystemen (konsistente Weltbilder,
Wertordnungen etc.) ein wachsendes geistig-moralisches Vakuum zu
konstatieren.
Ist
schon der entfremdete Arbeit gegen Konsum eintauschende
'Wohlstandsbürger/'Arbeitnehmer der fordistischen
Nachkriegsära ein Falsifikat des 'modernen Subjektmodells
der "heroischen bürgerlichen Aufstiegsperiode,
so gilt das erst recht für den flexibilisierten , sozial
entwurzelten, perspektivlos "driftenden, konsumistisch
verzogenen und "überreizten Augenblicksmenschen der
neoliberalen Ära.
Vor diesem soziokulturellen Hintergrund läßt sich der
postmoderne Subjektnihilismus als unmittelbarkeitsverhaftete
Dramatisierung des reflexiven Selbst-Verlustes dechiffrieren, den
die menschliche Subjektivität im Kontext der postfordistischen
Umbildungsprozesse erleidet. In Form der narrativen Ästhetisierung
empfundener Ausweglosigkeit fungiert das postmoderne Denken folglich
als zeitgeistiger Verarbeitungsmechanismus der markt- und
bürokratieunterworfenen Subjektivität. "Solche
narrativen Formen ... spiegeln in der Tat die Erfahrung der Zeit in
der modernen Politökonomie. Ein nachgiebiges Ich, eine Collage
aus Fragmenten, die sich ständig wandelt, sich immer neuen
Erfahrungen öffnet - das sind die psychologischen Bedingungen,
die der kurzfristigen, ungesicherten Arbeitserfahrung, flexiblen
Institutionen, ständigen Risiken entsprechen (Sennett
1998, S.182). Das - scheinbar alternativlos - der neuen Radikalität
der kapitalistischen Marktprozesse, dem Regulierungschaos der
modernen Bürokratie und den überbordenden Reizen der
konsumistischen Massenkultur des Habens ausgesetzte Individuum kann
sich in diesem widersprüchlichen Anforderungskontext den
komplizierten Bildungsprozess einer stabilen und geistig gehaltvollen
Identität scheinbar gar nicht mehr leisten und transformiert
deshalb diese systemisch erzwungene Not - zwecks Wahrung relativer
Handlungsfähigkeit - in die "postmoderne Tugend der
"Patchwork-Persönlichkeit.
Entkoppelung von kultureller 'Moderne und Marxscher Theorie
Der
Tatbestand, dass sich die 'kulturelle Moderne
(Subjektivitätsprinzip, doppelte Emanzipationsidee,
Säkularisierung, Menschenrechte, Demokratie/Selbstregierung des
Volkes, Rechtsstaatlichkeit etc.) wie ihr Trägersubjekt in Form
der Entfaltung der kapitalistischen Reproduktionsweise und der
Transformation des antifeudalen Bürgertums zur herrschenden
Bourgeoisie selbst negieren, ändert nichts an ihrem
progressiven, wenn auch uneingelösten oder nur entstellt bzw.
unvollkommen realisiertem Inhalt. Entsprechend treten Marx und Engels
mit ihrem Lebenswerk das dialektisch-kritische Erbe der
bürgerlich-emanzipatorischen Ideenformation an, die der
'kulturellen Moderne zugrunde liegt. Sie halten einerseits an
der antifeudal-revolutionären Ursprungsperspektive der
allgemeinen "menschlichen Emanzipation als Realisierung
von dialektisch vermittelter individueller und gesellschaftlicher
Befreiung fest und weisen andererseits die strukturelle
Gegensätzlichkeit zwischen emanzipatorischer Zielsetzung und
realer (herrschaftsförmiger) Beschaffenheit der
bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nach. In diesem Sinne
setzt die Verwirklichung der noch uneingelösten
emanzipatorischen Intentionen die Herausbildung einer neuen
revolutionären Bewegung voraus, um die dem
bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftssystem innewohnenden
emanzipationswidrigen Herrschaftsverhältnisse,
Entfremdungsformen, Antagonismen etc. zu überwinden. "Ziel
dieser revolutionären Umwälzung ist die über die
Begrenzungen der bürgerlich-politischen Emanzipation
hinausgetriebene menschliche Emanzipation, die Errichtung einer
solidarischen Gesellschaft freier Individuen, eine menschliche und
menschheitliche Weltgesellschaft (Schmied-Kowarzik 1999,
S.112).
Als dialektisch-kritische Erbin ist die Theorie von Marx
und Engels demnach fest im westlich-abendländischen Konzept der
'kulturellen Moderne verankert.
Innerhalb
der 'parteimarxistischen Bewegung nach Marx und Engels
Tod, die im Resultat zu einer gravierenden Verkehrung und
Deformierung der "Gründerideen und Ursprungskonzepte
geführt hat, ist nun diese Verankerung systematisch verschüttet,
bagatellisiert und negiert, d.h. im Endeffekt weitgehend beseitigt
worden. Die II. Internationale eliminiert mit ihrem mechanistischen
Geschichtsdenken und ihrer objektivistischen Zusammenbruchstheorie im
Kern das Subjektivitätsprinzip und reaktiviert statt dessen in
Gestalt des proletarischen Messianismus quasireligiöse
Einstellungs- und Erwartungsmuster, während der
revolutionär-humanistische und praxistheoretische Gehalt der
Marxschen Theorie ausgeblendet wird bzw. bestenfalls noch in
erstarrten Formeln auf Gedenkveranstaltungen zum Ausdruck kommt.
Nach
der Oktoberrevolution und dann verstärkt im Rahmen der
Stalinisierung der III. Kommunistischen Internationale wird der
Prozess der systematischen "Entwestlichung und
"kulturellen Entmodernisierung des Marxismus systematisch
vorangetrieben. In gewisser Hinsicht läßt sich die
Konstruktion des stalinistischen "Marxismus-Leninismus
auch als scholastisch-dogmatische Abtrennung der Marxschen und
Engelsschen Theorie von ihren westlich-kulturellen
Inspirationsquellen einerseits und als Adoption einer
"marxistisch-leninistischen Rhetorik bzw. Phraselogie
durch eine asiatisch-despotische Herrschaftskultur andererseits
beschreiben. Im Gegensatz zu ebenso weit verbreiteten wie falschen
Auffassungen besteht eben keine Kontinuitäts- bzw. lineare
Anknüpfungslinie zwischen der originären Theorie von Marx
und Engels und dem bolschewistischen, später stalinistisch
deformierten Projekt. Die kommunistische Revolution wurde nämlich
von den "Gründungsvätern als ein
internationaler, in allen zivilisierten Ländern (England,
Amerika, Frankreich und Deutschland) gleichzeitig vor sich gehender
Übergang erwartet. "Eine radikale soziale Revolution ist an
gewisse historische Bedingungen der ökonomischen Entwicklung
geknüpft; letztre sind ihre Voraussetzung. Sie ist also nur
möglich, wo mit der kapitalistischen Produktion das industrielle
Proletariat wenigstens eine bedeutende Stellung in der Volksmasse
einnimmt (MEW 18, S.633). Als eine "absolut notwendige
praktische Voraussetzung des Kommunismus wurde von ihnen eine
große Steigerung der Produktivkraft bzw. ein hoher Grad der
Produktivkraftentwicklung hervorgehoben, "weil ohne sie nur der
Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der
Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße
sich herstellen müsste, weil ferner nur mit dieser universellen
Entwicklung der Produktivkräfte ein universeller Verkehr
der Menschen gesetzt ist, ... Der Kommunismus ist empirisch nur als
die Tat der herrschenden Völker 'auf einmal und
gleichzeitig möglich, was die universelle Entwicklung der
Produktivkraft und den mit ihm zusammenhängenden Weltverkehr
voraussetzt (MEW 3, S.34f.). Demgegenüber bestand die
Leninsche (konkret-situative) Revision darin, vermittels der
Etablierung einer soziokulturellen "Erziehungsdiktatur im
rückständigen Russland, also im Rahmen einer
'Zwischenperiode, die zivilisatorischen Voraussetzungen für
den späteren Aufbau des Sozialismus zu schaffen. Dieses fragile
Projekt wurde kurz nach Lenins Tod durch die pseudosozialistisch
verbrämte Errichtung der Stalinschen Modernisierungsdiktatur
konterkariert. Die Kompliziertheit der marxistischen Bewegung
resultiert eben gerade aus diesem zugleich realen und doch vielfach
verkannten doppelten geschichtlichen Bruch zunächst zwischen
Marx/Engels (universelle Revolution in den entwickelten Ländern)
und Lenin (erziehungsdiktatorisch-kompensatorische 'Zwischenperiode)
und später dann zwischen Lenin und Stalin
(modernisierungsdiktatorische Schreckensherrschaft). Dieser
revolutionsstrategische Bruch impliziert folgerichtig eine
gravierende staatstheoretische Diskontinuität. Während
nämlich Marx und Engels unter der Prämisse ihrer
"universellen Revolutionsperspektive und angesichts des
Beispiels der Pariser Kommune noch eine radikal
staatskritisch-antibürokratische Auffassung formulierten>,
revidierte Lenin unter dem Zwang des Ziel-Mittel-Widerspruchs der
jungen Sowjetgesellschaft praktisch das noch in "Staat und
Revolution verfochtene Modell der Kommune als Richtschnur.
Stalin schließlich hat die Klassiker nur noch zwecks
Legitimation seines diktatorischen Regimes begrifflich beraubt und
damit gleichzeitig den bürgerlichen Antimarxismus reichlich
munitioniert. Auf Engels Aufforderung an die deutschen Philister:
"Seht euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des
Proletariats (MEW 22, S.199), hat Stalin dann mit den Moskauer
Prozessen und dem Gulag geantwortet und somit die Idee des
Kommunismus als hegemoniefähiges Konzept zumindest für eine
unabsehbar lange Zeit ruiniert.
Über
den zentralistischen "Infektionskanal der KOMINTERN,
später dann der moskau-, peking- und tiranahörigen
Abteilungen der kommunistischen Weltbewegung gelangte dieser
"entmodernisierte, "entdemokratisierte und
"entsubjektivierte "Marxismus-Leninismus zurück
in den Westen und diente mehreren Alterskohorten von
Parteikommunisten und deren Sympathisanten als bewußtseinsformierende
'Schulungsgrundlage. Im Prinzip handelte es sich hierbei
weniger um eine pseudowissenschaftliche Theorie als vielmehr um eine
einprägsam und kämpferisch-moralisch bebilderte Glaubens-
und Bekenntnislehre, die sich natürlich auch aus dem
reichhaltigen empirischen Arsenal anknüpfungs- und
plausibilisierungsfähiger .kapitalistischer Missstände und
Krisenerscheinungen zu ernähren wusste. In diesem
"marxistisch-leninistischen Diskurs wurden und werden die
grundlegenden Inhalte der 'kulturelle Moderne wie 'Demokratie,
Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit etc. undialektisch-einseitig
verzerrt und nur noch als "bürgerlicher Firlefanz,
Ausgeburt bourgeoiser Machtverschwörung, Ausdruck
imperialistischer Manipulation und Diversion etc. wahrgenommen. D.h.
mit der verunstalteten/verunstaltenden bürgerlich-kapitalistischen
Realisierungsform wurde und wird der dahinterliegende sozial- und
subjektemanzipatorische Inhalt 'einfach (mit-)negiert.
Humanismus, auch in Marx revolutionärer Form, erschien und
erscheint in diesem parteikommunistisch präformierten Denkrahmen
- bei flagranter Verkennung von dessen wissenschaftlichen
Implikationen - als bloße Humanitätsduselei bzw.
Philanthropismus. Stalinistisch deformierter Parteikommunismus und
kapitaltheoretisch reduzierter Seminarmarxismus trafen sich im
"theoretischen Antihumanismus (Althusser). 'Sozialismus
wurde und wird teilweise immer noch in reinen Machtkategorien als
"repräsentative Erziehungsdikatur konzipiert und
"verteidigt, während man gleichzeitig seinen
emanzipatorischen Zielhorizont verdrängt und obendrein noch als
"idealistische Verirrung diffamiert. Im Sinne eines
manichäischen Antiimperialismus wurde und wird jede auch
reaktionär-antiemanzipatorische Protesthaltung gerühmt,
wenn sie sich nur 'irgendwie gegen den Kapitalismus/den Westen
richtete (Beispiel: Umsturz im Iran und Errichtung der
Mullah-Herrschaft).
De
facto ist die 'kulturelle Moderne heute - einschließlich
ihres dialektisch-kritischen Erbes in Gestalt der Marxschen Theorie -
einem konzentrischen Vernichtungsangriff aus entgegengesetzten
Richtungen ausgesetzt. Marktradikale Neoliberale mit ihrer Vergötzung
anarchisch-destruktiver Wirtschaftsmechanismen als "kreative
Zerstörung, Wiederbeschwörer konservativer
Wertorientierungen mit ihrem Streben nach Reinstallierung einer
entmündigenden Untertanen- und Gehorsamskultur,
postmodernistische Zeitgeistmonteure mit ihrer fadenscheinigen
Sabotage kritisch-wissenschaftlicher Denk- und Analysemethoden,
religiöse Fundamentalisten mit ihrer neototalitären
Verteufelung der menschlichen Emanzipation und eben auch
poststalinistische Linke mit ihrer verbildeten, einfach-negatorischen
und pseudofortschrittlichen Anti-Haltung im Sinne eines
"entmodernisierten Radikalismus bilden eine Gemengelage
geistig-moralischer Destruktivkräfte, die einer Neuaneignung
sozial- und subjektemanzipatorischer Perspektiven auf jeweils
spezifische Art entgegenstehen.
Die
bündelnde und verstärkende 'Mutter aller
Verfallstendenzen der deutschen Linken, die PDS, repräsentiert
in sich die beiden Hauptvarianten inadäquater Bewältigung
der 'kulturellen Moderne: Statt eines kritisch-dialektischen
Verhältnisses finden wir hier einerseits einen
unkritisch-reformistischen 'Moderne-Fetischismus, der die
kapitalistische Selbstnegation der ursprünglichen sozial- und
subjektemanzipatorischen Bestrebungen verleugnet und opportunistisch
entsorgt sowie andererseits eine poststalinistisch-scheinradikale
Kreuzung aus einfach-negatorischem Antimodernismus und veraltetem
Antikapitalismus, der sich aus dem Leichengift des
entmodernisierten/entwestlichten "Marxismus-Leninismus
nährt. Insofern sind die traditionskommunistischen
Organisationsreste als geistige Opfer der Verwandlung des Marxismus
von einer kritisch-emanzipatorischen Wissenschaft in eine
asiatisierte Rechtfertigungslehre neodespotischer Parteiherrschaft
anzusehen.
Auch außerhalb der PDS finden sich zahlreiche Anhaltspunkte für
sich beschleunigende ideologisch-politische Niedergangs- und
Entartungstendenzen der residualen deutschen 'Bewegungslinken.
Exemplarisch sei hier nur auf folgende Tatsachen hingewiesen:
die
Apologetik des Milosevic-Regimes und des mörderischen
serbischen Ethnizismus,
das
Umlügen neototalitärer religiös-fundamentalistischer
Bewegungen und Terrorgruppen in "Freiheitskämpfer,
die
kulturrelativistische Verharmlosung prämoderner
Unterdrückungspraktiken in anderen Kulturkreisen,
die ignorante Solidarität mit Regimen, wenn sie sich nur
"'irgendwie 'antiimperialistisch gebärden oder
vereinnahmen lassen.
Gerade heute angesichts einer neuartigen Weltunordnung und dem
Eintritt in die Ära asymmetrischer Kriegsführung muss ein
kritischer Marxismus auf der Höhe der Zeit vom Marxschen
kategorischen Imperativ her aufgebaut sein, "alle
Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes,
ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.
Wenn im Zeichen der gegenwärtigen kapitalistischen
Globalisierung überlieferte Herrschaftsverhältnisse
systematisch "umgebaut, partiell aufgehoben und partiell
verschärft werden, andererseits traditionelle Sozialbeziehungen
und institutionelle Gefüge zerbersten oder erodieren und die
betroffenen Subjekte materiell (z.B: räumlich, existenziell,
qualifikatorisch), und ideell (sinn- und orientierungsstrukturell)
durcheinander gewirbelt werden, dann ruft das eben nicht nur
progressive/emanzipatorische Gegenkräfte auf den Plan, sondern
oftmals sogar in bedeutend stärkerem Maße das Spektrum der
tendenziell entprivilegierten und in ihrer ehemaligen
("angestammten) Vormachstellung bedrohten traditionellen
Herrschaftsschichten, die Träger regressiv-antihumanistischer
Ideen und repressiv-antiemanzipatorischer Praxis sind. Ein bipolares
Freund-Feind-Denken ist deshalb längst obsolet geworden und
läuft auf eine verharmlosende, die reale Gegnerschaftsstruktur
verniedlichende und simplifizierende Sichtweise hinaus.
Aspekte einer radikal-humanistischen Antwort auf die
fundamentalistische Herrschaftsanmaßung: Die Entkoppelung von
Religion und Moral
Neben
der spätkapitalistischen (Selbst-)Verstümmelung der
'kulturellen Moderne bildet die aktuelle 'Umarbeitung des
Religiösen zu einer zutiefst fortschrittsfeindlichen und
herrschaftsverteidigenden Legitimationsideologie den zweiten
Hauptangriffspol auf die globalen Möglichkeitsbedingungen einer
progressiven Zukunftsgestaltung. Die daraus hervorgegangene
neototalitäre Herrschaftsanmaßung fundamentalistischer
Bewegungen erfordert eine mittlerweile längst überfällige
substanzielle Antwort, die das radikale religionskritische Potential
der neuzeitlichen europäischen Emanzipationsbewegung
wiederbelebt und offensiv zur Geltung bringt. Dieser Intention sind
die abschließenden Ausführungen gewidmet.
Die
allen religiösen Glaubensgemeinschaften innewohnende Tendenz zur
moralischen Abwertung und Geringschätzung der Anders- und
Ungläubigen wird in den diversen fundamentalistischen Diskursen
explizit entfaltet, systematisch vertieft und zu einem offensiven
Feindbild ausgebaut. In diesem spezifischen Bedeutungskontext wird
primär nicht biologische oder ethnisch-nationale Andersartigkeit
negativ selektiert, sondern die Nichtübereinstimmung in
Glaubensfragen ins Zentrum gerückt.
An die Stelle von rassistischer, ethnizistischer oder
nationalistischer Diskriminierung tritt die Stigmatisierung von
religiöser 'Nichtidentität. Der "fremdrassige
Untermensch wird ersetzt durch den Anders-, primär aber
durch den Ungläubigen>.
Im
Gegensatz zur postmodernen Fetischisierung von Differenz, die gerne
als strategisch hilfreiche Unterstützung von außen
aufgegriffen wird, zielt die fundamentalistische Ideologie und Praxis
auf die schonungslose Eliminierung des 'Rechts auf Andersartigkeit.
Das gilt in besonderem Maße auch für den islamischen
Fundamentalismus. Hier wird abweichendes Verhalten in Fragen des
Glaubens und der Lebensführung im Zeichen der Scharia
systematisch bestraft und unterdrückt. Eine entsprechende
Prädisposition findet sich bereits im Koran, der im Gegensatz zu
ignoranten oder bewusst unwahren Beschwichtigungsgerüchten alles
andere als ein Buch der Liebe und Friedfertigkeit ist.
Vielmehr
handelt es sich um einen Text, der imperialen Herrschaftsanspruch und
kriegerische Gewaltbereitschaft zur Verbreitung des Islam ebenso
einschließt wie eine durchgängige eliminatorische
Kampfansage an diejenigen, die sich Allah nicht hingeben wollen,
nämlich die Ungläubigen (d.h. heute insbesondere die
säkular-humanistischen Atheisten). So wird an zahlreichen
Stellen mit einer an Sadismus grenzenden Metaphorik immer wieder die
qualvolle Bestrafung der Ungläubigen beschworen und ausgemalt:
"Verbrennen wird das Feuer ihre Angesichter, und die Zähne
werden sie in ihm fletschen (Sure 23, 106). "Nehmet ihn
und fesselt ihn! Alsdann im Höllenpfuhl lasset brennen ihn!
Alsdann in eine Kette von siebenzig Ellen Länge stecket ihn!
Siehe, er glaubte nicht an Allah, den Großen, und sorgte sich
nicht um die Speisung des Armen.
Drum hat er heute hier keinen Freund und keine Speise außer
Eiterfluß, den nur die Sünder verzehren (Sure 69,
30-37).
Im
Fundamentalismus geriert sich der religiöse Herrenmensch als
"gottgewollter Gebieter über die Masse der unbotmäßig
lebenden 'Ungläubigen, die als moralisch minderwertige
Wesen verachtet werden. Die zahlreichen Erscheinungsformen
'spätmoderner Sündhaftigkeit in Form von Pornofilmen,
sexualisierter Werbung, aufreizender Kleidung, erotischer Videoclips,
hedonistischer Lebensideale etc. werden nicht als Ausdrucks- und
Vermittlungsmomente kapitalistischer Verwertungsprobleme begriffen,
sondern per se der säkularen Kultur angelastet. Exakt diese
durch religiösen Dogmatismus und Fanatismus irregeleitete
Gleichsetzung von säkularer Kultur mit moralischer Degradation
und Dekadenz bzw. die demagogische Konfundierung von säkularem
Humanismus, spätkapitalistischer Massenkultur und sündigem
Verfall bildet den geistig-moralischen Brennpunkt im Kampf gegen
den Fundamentalismus als Bewegung totalitärer
Herrschaftsanmaßung und religiös-moralischer
Selbsterhöhung. Das Fatale ist nun, daß die
'amerikanische Antwort des Westens eine bizarre Synthese aus
technisch-ökonomischer Modernität und
christlich-protestantischem Fundamentalismus republikanischer Prägung
darstellt, die überdies mit einer geistig-kulturellen
Selbstabdankung Westeuropas korrespondiert.
Die republikanisch regierte und 'vergeltungspatriotisch
zusammengeschweißte USA als Führungsmacht der
kapitalistischen 'Spätmoderne vermag zwar ihre
waffentechnisch-militärische Überlegenheit und ihre globale
politische Macht in die Waagschale zu werfen, aber 'substanzethisch
hat sie aufgrund ihrer bizarren soziokulturellen Software( Mischung
aus patriotischem Puritanismus und 'McWorld) im Kampf gegen die
Herausforderung des islamischen Fundamentalismus wenig zu bieten.
So ist es angesichts dieser geistig-weltanschaulichen Konstitution
auch keine Überraschung, daß die Bush-Administration
keinen Kampf gegen den islamischen Fundamentalismus als
ganzheitliches Phänomen zu führen gewillt und in der Lage
ist, sondern sich einseitig auf die militärische Zerstörung
von dessen terroristischer Speerspitze beschränkt.
Um
der (neo-)totalitären Herrschaftsanmaßung des islamischen
Fundamentalismus eine inhaltlich radikale Abfuhr zu erteilen, bedarf
es der Reaktivierung der geistig-kritischen Inspirationsquellen
und ethischen Überzeugungsgründe der kulturellen 'Moderne,
die innerhalb des kapitalistischen Durchdringungsprozesses der
'posttraditionalen Gesellschaftsentwicklung zwar sukzessive
verschüttet, verstümmelt und verdrängt worden, aber
immerhin noch rudimentär vorhanden sind. Es geht folglich um die
Wiedererschließung des kritisch-humanistischen Potentials der
neuzeitlichen Emanzipationsbewegungen, das nicht 'endgültig
gescheitert ist, sondern vielmehr der adäquaten Realisierung und
globalen Verallgemeinerung harrt. In dieser Perspektive ist gegen den
moralischen Überlegenheitsgestus, der sämtlichen
fundamentalistischen Diskursen eingeschrieben ist und in dem sich
zugleich ein herrschaftlicher Normierungs- und
Sanktionierungsanspruch artikuliert, grundsätzlich folgendes
einzuwenden:
1)
Im Gegensatz zur idealisierenden Selbstbespiegelung war und ist allen
Formen religiöser (streng gläubiger) Lebensführung in
der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart schon aufgrund ihrer
multiplen Einbindung in die antagonistische Zivilisationsgeschichte
ein hohes Potential an Herrschaftssucht, kriegerischer Aggressivität
und Sittenlosigkeit inhärent. Hervorzuheben ist in diesem
Kontext insbesondere die repressiv-antihumanistische
'Sexualethik, die nicht nur eine pathogenetische Verformung
der menschlichen 'Triebnatur und des 'Seelenlebens
induziert, sondern geradezu gesetzmäßig das Phänomen
der Doppelmoral bzw. des Widerspruchs zwischen sittlichem
Bekenntnis und realer Praxis aus sich hervortreibt, indem durch
rigide Keuschheitsgebote sexuelle Bedürfnisse zur obsessiven
Begierde 'übersteigert werden. Schon Pierre Bayle
(1647-1706)
verwies mit Nachdruck darauf, dass die Religion mit ihrem strengen
Sittencodex nicht imstande sei, die menschlichen Leidenschaften im
Zaume zu halten. "Es war eine Zeit, wo man den Priestern und
Mönchen in Deutschland gegen eine gewisse jährliche Abgabe
an ihren Prälaten erlaubte, sich Beischläferinnen zu
halten. Gewöhnlich hält man die Habsucht allein für
den Grund dieser schändlichen Nachsicht. Aber es ist
wahrscheinlich, dass man die Keuschheit der ehrbaren Frauen wenigeren
Gefahren aussetzen und ihre Männer beruhigen wollte, deren Rache
zu verhüten im Interesse der Geistlichkeit lag. Seht, so wenig
war die christliche Religion imstande, die Unzucht zu bezähmen,
dass man sich genötigt sah, ihr einen Teil der Weiber
aufzuopfern, um den anderen zu retten und durch ein geringeres ein
größeres Verbrechen zu verhüten, das aber
dessenungeachtet ein sehr gemeines geworden (Bayle, zit. n.
Feuerbach 1967, S.60). Die 'Kehrseite der offiziellen
islamischen Sexualmoral zeigt sich wiederum z.B. im gegenwärtigen
Ägypten im Phänomen der "immer wieder im Nil
treibenden Mädchen- und Frauenleichen - meist unverheiratete
Schwangere aus der Unterschicht, die ermordet wurden oder sich selbst
umgebracht haben - eine mehrerer Formen der sogenannten 'Gewalt der
Ehre (Harwazinski 1998, S. 445f.). Dabei
korrespondiert(e) der rigiden religiösen Offizialmoral -
gewissermaßen als Ventil und Alibi - eine ausgesprochen
entwürdigende Stigmatisierung von sich angeblich "unanständig
verhaltenden und deshalb straffrei zu missbrauchenden Frauen. So
wurden Frauen, die im Spätmittelalter oder in der frühen
Neuzeit alleine ausgesprochene Männerorte wie z.B. Wirtshäuser
aufsuchten, "weil sie etwa auf der Suche nach ihren Männern
oder Vätern waren ... für Huren gehalten und zumindest
sexuell belästigt (Duerr 1995, S. 364). Diese Auffassung,
dass es sich bei Frauen, die sich nachts allein auf der Straße
aufhalten, nur um sexuell zur Verfügung stehende Huren handeln
könnte, ist auch heute noch durchaus verbreitet. "Der Vater
eines jungen Türken, der gemeinsam mit einigen Landsleuten eine
junge Kreuzbergerin, die nachts auf die Straße gegangen war,
vergewaltigt hatte, kommentierte die Tat mit den Worten: Wenn ich
dabei gewesen wäre, ich hätte mitgefickt (ebenda,
S.622f.). Gerade in dem Tatbestand, das sich allein in der
Öffentlichkeit zeigende Frauen als vor männlichen
Übergriffen Bedrohte und Gefährdete angesehen werden,
offenbart den psychomoralischen Regulierungs- und Kontrollbankrott
islamistischer Ethik.
2)
Entgegen der moralischen Selbsterhöhung der Gläubigen, die
im Ungläubigen/Atheisten ein minderwertiges, im Grunde
'verderbtes Wesen sehen, hat schon Bayle die folgenden
konstitutiven, nach wie vor gültigen Einwände erhoben:
"Allein, es verträgt sich recht wohl die Überzeugung
von unsern Religionsgeheimnissen mit allen möglichen
Sittenlosigkeiten ... Die Erfahrung lehrt, dass auch die, welche
einen Himmel und eine Hölle glauben, zu Verbrechen aller Art
fähig sind, und es ist daher evident, dass die Neigung zum Bösen
nicht daher kommt, dass man nicht weiß, dass ein Gott ist, und
daß sie nicht durch die Erkenntnis eines strafenden und
belohnenden Gottes gebessert wird; offenbar, daß die Neigung
zum Bösen in einer Seele, die keine Erkenntnis von Gott hat,
nicht stärker ist als in einer Seele, die Gott kennt (zit.
n. Feuerbach 1967, S.61). Die damit zunächst zum Ausdruck
gebrachte moralische Gleichwertigkeit von Gläubigen und
Atheisten impliziert aber auch, dass "die Menschen im
höchsten Grade sittenlos und doch zugleich vollkommen von der
Wahrheit einer Religion, selbst der christlichen Religion, überzeugt
sein können (ebenda, S.62). Damit wird schon in der
Frühaufklärung deutlich die 'moderne Erkenntnis zum
Ausdruck gebracht, dass der Glaube an Gott nicht "kausalmechanisch
die Quelle des Guten sei und folglich kein deterministischer bzw.
'zwangsläufiger Zusammenhang zwischen Glaube und
(positiver) Lebensführung bestehe. Diese
Auflösung/Dekonstruktion der traditional immer schon
voraussgesetzten bzw. 'ontologisch unterstellten Kongruenz von
"frommer (rituell-orthodoxer) und "guter
(praktisch-moralischer) Lebensführung bedeutet für Bayle,
dass "der Glaube einer Religion nicht den Wandel eines Menschen
regelt und bestimmt, außer dass er höchstens dazu geeignet
ist, in seinem Herzen Zorn gegen Andersdenkende, Furcht, wenn er sich
von Gefahr bedroht glaubt, und andere ähnliche Leidenschaften
hervorzubringen (ebenda). Wenn der religiöse/gläubige
Mensch zugleich auch 'gut handelt und lebt, dann tut er das
nicht aufgrund seiner Gläubigkeit, sondern aufgrund seiner
individuell erworbenen Sittlichkeit, die er a posteriori als religiös
konstituiert verbrämen mag. "Wenn daher eine positive
Religion gut auf den Menschen wirkt, sittliche Folgen hat,
Leidenschaften zügelt, so Feuerbach (ebenda, S.83), "so
ist das zufällig; die Ursache ist nicht sie, sondern der Mensch,
der durch seine individuelle sittliche Kraft oder durch die Macht des
Guten, wie sie sich ihm durch das Gewissen oder die freie Intelligenz
offenbart, die Religion beherrscht und gegen das Schicksal jeder
positiven Religion sich stemmt.
3)
Die Nichtidentität von 'frommer und 'guter
Lebensführung impliziert die sehr reale Möglichkeit der
Verknüpfung von Frömmigkeit und 'Schlechtigkeit bzw.
von Gläubigkeit und unsittlicher/barbarischer (und in aktueller
Hinsicht: terroristischer ) Praxis, wie sie nicht zuletzt den
fundamentalistischen Religionseiferer "auszeichnet. Denn,
so Bayle (ebenda, S.73), "ein Mensch, der überzeugt ist,
daß er durch die Ausrottung der Ketzer das Reich Gottes fördert
... , ein solcher Mensch, sage ich, wird alle Gesetze der Moral mit
Füßen treten, und weit entfernt, durch die Vorwürfe
des Gewissens im Zaum gehalten zu werden, wird er vielmehr durch sein
Gewissen selbst dazu angetrieben, alle Mittel ohne Unterschied
anzuwenden, um nur dadurch zu bewirken, dass er heilige Name Gottes
nicht mehr gelästert wird, und so auf den Ruinen der Ketzerei
oder Götzendienerei die Orthodoxie aufzupflanzen. Was für
Verwüstungen verursacht solcher Religionseifer in einem Staate!
Da religiöser Glaube 'an sich nicht 'gut ist und
zudem 'Gläubigkeit - vor allem in Form
fundamentalistischer Gesinnung - die Autonomie ethischer Vernunft als
menschliches Gattungsvermögen negiert und sogar verteufelt,
unterliegt Religiosität permanent der Gefahr 'frommer
Amoralität. "Sind daher einer Religion nicht die ethischen
Begriffe die obersten, die heiligsten Begriffe, hat sie einen von
denselben unterschiednen, partikulären Inhalt zum obersten
Heiligtum, so hat sie wohl heilige Handlungen, aber deswegennoch
lange nicht sittliche Handlungen und Gesinnungen zur Folge, so
kann sie selbst der Impuls zu Verbrechen werden (Feuerbach,
ebenda S.75).
4)
Da die Wirkungsmacht der Religion nicht auf subjektiv 'freier
ethischer Reflexion und Entscheidung basiert, sondern auf autoritärer
Tradition, sozialisatorischer Indoktrination und repressiver
Sozialkontrolle,
entwickelt sich eine 'formalistische, ethisch "leere
Frömmigkeit reiner Pflichterfüllung. Die Vorschriften der
Kirche, der Geistlichkeit, der Schriftgelehrten, die pflichtschuldige
Einhaltung der rituellen Praktiken, die Befolgung der Glaubensgesetze
etc. rücken ins Zentrum des religiösen Lebens. Auf diese
Weise kommt es zum subjektinternen 'Schisma von äußerlich
konformer (pflichtbewusster) Gläubigkeit und tatsächlicher
ethischer Praxis bzw. zur individuellen Reproduktion des 'Bruchs
zwischen Religiosität und Sittlichkeit. "Gott wird zu einem
förmlichen Pflichtobjekt, die Religion zur Darbringung
eines schuldigen Opfers, einer Ehrenbezeigung, einer Abgabe
an den König der Könige (ebenda, S.80). Die
sittlichen Pflichten im zwischenmenschlichen Verkehr werden nicht "um
ihrer selbst willen, sondern um Gottes willen, weil er sie
befiehlt, also aus einem ihnen äußerlichen Grunde
erfüllt, und es entfremdet so notwendig sich das Gemüt dem
sittlichen Geiste, daher die Erfahrungen, daß der
schlechteste Charakter sich mit religiösem Herrendienste
verträgt, keine zufällige(n), sondern aus der Natur der
Sache hervorgehende Erscheinungen sind (ebenda, S.81).
5)
Da der religiöse Glaube in evidenter Weise weder die
menschlichen 'Leidenschaften zu zügeln noch das 'Gute zu
stimulieren vermag, bedarf er eines apologetischen Konstrukts, um den
quälenden Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu
eliminieren oder doch zumindest auszubalancieren. Dieses geistliche
'Lösungsmittel liefern die monotheistischen Theologien mit
ihrem Dogma von der Grundverdorbenheit der auf sich selbst
verwiesenen menschlichen Natur. Danach vermögen die Menschen
sich nur vermittels der göttlichen Gnade infolge eines
gottgeweihten Lebens von ihrer 'Erbsündigkeit zu reinigen.
Mit Hilfe dieser Konstruktion läßt sich das 'Gute
dem Christen, dem Moslem, dem frommen Juden etc. zuschreiben und das
'Schlechte dem ungläubigen Menschen. Dem durch fromme
Lebensführung gereinigten und damit 'gut gewordenen
Menschen gebührt das himmlische Paradies,
dem ungläubigen und damit 'schlecht gebliebenen bzw. in
seiner natürlichen Verdorbenheit verharrenden Menschen bleibt
nur die Hölle. Diese 'hermetische Leugnung der autonomen
(von Gott unabhängigen) Existenz des 'Guten
sowie der selbständigen menschlichen Empfindungsfähigkeit
für das 'Gute versperrt letztendlich den Weg in das
emanzipatorische Möglichkeitsfeld der kulturellen 'Moderne
. Denn, so ist in ungebrochener Aktualität mit Feuerbach
hervorzuheben: "Solange daher die Menschheit dieses Dogma
glaubt, solange bleibt sie innerlich grundschlecht, jede gründliche
Besserung des Menschen unmöglich. Die Tugendhaftigkeit wird
enterbt, wo die Sünde ein heiliges Erbrecht hat, das einzige
Gute im Menschen - der Glaube an das Gute - ausgerottet. Nur da
dringt das Gute in den Menschen selbst ein, wo es als sein eignes
innres Wesen, als seine wahre Natur gefaßt und der
Glaube an die Sünde als die größte Sünde erkannt
wird. So reißt die Theologie die Ethik mit der Wurzel
aus , indem sie das Gute außer den Menschen hinausschiebt; so
nimmt sie dem Menschen sein Bestes seinen wahren Gott, um ihm
dafür einen äußerlichen, welschen Gott zu geben
(ebenda, S.85f.).
Indem
das religiöse Bewusstsein das 'Gute an die Existenz Gottes
kettet bzw. als abhängiges Attribut des personalen
Schöpfergottes bestimmt und verkündet, erreicht es nicht
das Niveau der autonomen Sittlichkeit, auf dem die Idee des
'Guten " frei von aller Persönlichkeit
rein durch sich selbst gedacht und um seiner selbst willen geliebt
und getan wird. Nur mit gerechter Verachtung kann und muss man daher
auf euch blicken, die ihr. mit euren angeblich tieferen, religiösen
Begründungen euch brüstend, die positivsten, tiefsten
Fortschritte der Menschheit und Wissenschaft, im lächerlichsten
Dünkel befangen, als überlebte Standpunkte bezeichnet
(ebenda, S.107). Demgegenüber besitzt die vom religiösen
Fundamentalismus zum Schreckens- und Feindbild aufgebaute
'Ungläubigkeit in Form des die abendländisch-neuzeitliche
Identität nachhaltig prägenden säkularen Humanismus
eine ethische Basis sui generis. An die Stelle Gottes als
generierende Moralbasis treten nun folgende inneren Kräfte der
Menschen als moralische Ressourcen bzw. Quellen der Moralerkundung:
Zum einen die rationalen Fähigkeiten des handelnden Subjekts,
die Kompetenz zur vernünftigen Umwelt- und Selbstkontrolle;
zum anderen die Natur samt ihrer im Inneren der Menschen vernehmbaren
Stimme (moralische Empfindungs- und Artikulationsfähigkeit).
Demnach ist der Mensch 'von Natur aus weder 'gut noch
'schlecht; aber er verfügt "von sich aus über
die gattungsspezifische Potenz, das 'Gute zu empfinden, zu
erkennen, zu wollen und zu tun.
Wesentliche
Leitorientierungen dieser säkular-humanistischen 'Ethik des
Unglaubens sind:
a)
der moralische Imperativ der Leidensminderung in Verbindung mit der
Bedeutsamkeit des "gewöhnlichen Lebens
sowie dem Ideal des allgemeinen Wohlwollens;
b)
der Leitgedanke des freien, sich selbst bestimmenden Subjekts, wobei
'Freiheit sowohl negativ als Abstreifung kosmischer
Vorherbestimmung (göttlicher Vorsehung) als auch positiv durch
Erschließung der Kräfte der desengagierten
(objektivierenden) Vernunft wie der schöpferischen
Einbildungskraft definiert wird; sowie
c)
das Gebot der allgemeinen Gerechtigkeit, das sich sowohl in der
Sprache der 'subjektiven Rechte als auch in den
'gleichheitsorientierten Bestrebungen nach Hierarchieabbau
zwischen den Klassen, Rassen und Geschlechtern niedergeschlagen sowie
im Ideal der Demokratie manifestiert hat.
Den
herausragenden Kulminationspunkt der atheistisch-humanistischen Ethik
bildet Marx herrschaftskritischer Imperativ, "alle
Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes,
ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist
(Marx 1988, S.385, Hervorhebung von mir; H.K.), einschließlich
des darin implizit angesprochen Projekts der gemeinsamen Schaffung
eines "Vereins 'freier Menschen. Diese
emanzipatorische Grundorientierung, die sich gleichermaßen
sowohl gegen die spätkapitalistische Herrschaftskultur des
profitorientierten Wertenihilimus als auch gegen den neototalitären
Aufstand der religiösen Fundamentalismen wider die
Grundprinzipien der kulturellen 'Moderne richtet, gilt es als
Richtmaß globaler Fortschrittsbemühungen und progressiver
Bildungsanstrengungen wieder ins Zentrum zu rücken.
© Hartmut Kauss, Osnabrück 2002
Anmerkungen:
Literatur:
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Zygmunt: Ansichten der Postmoderne, Hamburg, Berlin 1995.
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Hans Peter: Obszönität und Gewalt. Der Mythos vom
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Habermas,
Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1:
Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung.
Vierte, durchgesehene Auflage. Frankfurt am Main 1987.
Harwazinski,
Assia Maria: Fanatismus, Fundamentalismus, Frauen: Zur Kritik
kulturalistischer Interpretationsmuster in der gegenwärtigen
Islamdebatte. In: Bielefeldt, Heiner, Heitmeyer,
Wilhelm 1998, S. 438-449.
Krauss,
Hartmut: Zur Kritik des 'Marxismus Leninismus als
stalinistische Ideologie. In:HINTERGRUND.
Marxistische Zeitschrift für Gesellschaftstheorie und Politik.
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Karl, Engels, Friedrich: Ausgewählte Werke in sechs
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Pohly,
Michael, Durán, Khalid: Osama bin Laden und der
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Schmied-Kowarzik,
Wolfdietrich: Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen
zur praktischen Philosophie. Würzburg 1999.
Sennett,
Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus.
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Seppmann,
Werner: Das Ende der Gesellschaftskritik? Die 'Postmoderne als
Ideologie und Realität. Köln 2000.
Taylor,
Charles: Die Unvollkommenheit der Moderne. In: Axel Honneth (Hg.):
Pathologien des Sozialen. Die Aufgaben der Sozialphilosophie.
Frankfurt am Main 1994, S.73-106.
Taylor,
Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen
Identität. Frankfurt am Main 1996 (2. Auflage).
Tibi,
Bassam: Im Schatten Allahs. Der Islam und die Menschenrechte. München
1999. 2. Auflage.